Die explorative Vorstudie 2020

Die meisten älteren Menschen in der Schweiz sind mit zunehmender Gebrechlichkeit auf Unterstützung angewiesen. Umsorgt werden sie vor allem von ihren Familienangehörigen: 37 Millionen Stunden unbezahlte Betreuungs-und Pflegearbeit leisten sie jährlich. Aber nicht alle können auf die Solidarität und das Verpflichtungsgefühl ihrer Familienangehörigen bauen: Über 8 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz werden ohne Familienangehörige alt. Wer sind die Menschen, die ohne Familienangehörige alt werden? Von wem werden sie unterstützt, wenn sie im Alter Hilfe in ihrer Alltagsgestaltung brauchen? Die explorative Studie gibt erste Antworten auf diese gesellschaftspolitisch drängenden Fragen.

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Management Summary

Immer mehr Menschen werden immer älter. Diese doppelte demografische Alterung mündet zwar nicht in eine längere Pflegebedürftigkeit, aber der Fragilisierungsprozess wird immer länger und damit wächst der Bedarf an Unterstützung und Betreuung im Alltag (Gasser et al. 2015). Diese Care-Arbeit wird vorwiegend von Familienangehörigen geleistet: von der Lebenspartnerin oder dem Lebenspartner und den Kindern. Auch andere Verwandte, Freundinnen und Freunde oder Nachbarinnen und Nachbarn können wichtige Unterstützung bieten, diese ist in der Regel aber eher punktuell. Die Unterstützung von Familienangehöri-gen ist für ältere Menschen und für unsere Gesellschaft fundamental wichtig.

Es gibt in der Schweiz aber auch ältere Menschen, die ohne Familienangehörige alt werden und ebenfalls auf Unterstützung angewiesen sind. Diese Menschen stehen im Fokus dieser explorativen Studie, die im Auftrag des Migros-Kulturprozent erarbeitet wurde. Wir fragen uns in dieser Studie:

  • Wie kann die Gruppe älterer Menschen ohne Familienangehörige eingegrenzt und typisiert werden?
  • Wie kann die Gruppe der älteren Menschen ohne Familienangehörige aus einer sozio-ökonomischen Perspektive heraus beschrieben werden?
  • Wie kann die Gruppe der älteren Menschen ohne Familienangehörige in ihrer Grössenordnung heute und in den kommenden Jahren eingeschätzt werden?

Wir verwenden in der Studie eine eher enge Form von Familienangehörigen: Familienangehörige sind jene, die der Kernfamilie angehören: der Partner, die Partnerin und die Kinder. Diesen engsten Familienkreis unterscheiden wir von übrigen Verwandten, Freundinnen und Freunden, Nachbarinnen und Nachbarn. Andere Angehörigenbegriffe orientieren sich mehr daran, wer sich einer Person zugehörig fühlt. Die informelle Unterstützung für ältere Menschen wird bis anhin grösstenteils von der Kernfamilie geleistet (Höpflinger 2013). Das ist ein Grund, warum wir in dieser Studie von Familienangehörigen sprechen. Die enge begriffliche Abgrenzung dient der Klarheit der Analyse.

Es sind die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie Paarbeziehungen, die in der Schweiz rechtlich geregelt sind oder geregelt werden können. Dabei besteht aber keine Pflicht, sich um die älteren Familienangehörigen zu kümmern. Und es gibt auch nur ein sehr eingeschränktes Recht, das die Sorgearbeit von Familienangehörigen anerkennt. Sorgearbeit wird denn auch kaum von der öffentlichen Hand unterstützt. Und das, obwohl das Betreuungssystem, aber auch das Pflegesystem in der Schweiz die unentgeltliche Unterstützung von Familienangehörigen letztlich voraussetzt.

Der grösste Unterschied zwischen älteren Menschen mit Familienangehörigen und solchen ohne Familienangehörige besteht zweifellos im sozialen Netzwerk. Beziehungen zu Familienangehörigen sind einzigartig und zwischen Eltern und Kindern oft ambivalenter Natur: Sie schwanken zwischen starken Gefühlen der Solidarität und schon langen mitgetragenen Konflikten. Diese Ambivalenz ist besonders geprägt von einem Ringen um die Balance von Eigenständigkeit und Abhängigkeit zwischen den Eltern und den Kindern in den verschiedenen Lebensphasen, aber auch zwischen Partnerinnen und Partnern. Sobald eine ältere Person auf Unterstützung angewiesen ist, wächst die Abhängigkeit zwischen der hilfegeben-den und der hilfeempfangenden Person. Wie stark die verschiedenen Ambivalenzen tatsächlich zum Ausdruck kommen, ist auch eine Frage der Ressourcen, die Familien zur Verfügung haben, und wie Betreuungs- und Pflegesituationen institutionell unterstützt und gesellschaftspolitisch bewertet werden.

Alt werden ohne Familienangehörige bedeutet, dass man im Fragilisierungsprozess nicht auf das Verpflichtungsgefühl oder die Liebe und Fürsorge der Partnerin und des Partners oder der Kinder bauen kann, sondern sich diese Hilfe anders organisieren muss. Andere Verwandte, aber auch Nachbarinnen und Nachbarn oder Freundinnen und Freunde können ebenso wichtige informelle Hilfe leisten wie Familienangehörige. Freundschaftliche Beziehungen basieren allerdings sehr viel stärker als Beziehungen zwischen Familienangehörigen auf dem Reziprozitätsprinzip. Einseitige Hilfen im Freundeskreis und in der Nachbarschaft werden eher vermieden. Hier stellt sich die Frage, welche Beziehungsmuster und Strategien ältere Menschen ohne Familienangehörige entwickeln, wenn sie wissen, dass sie ohne Familienangehörige alt werden. Dazu ist bisher in der Literatur wenig bekannt.

Wir gehen davon aus, dass das Unterstützungspotenzial, worauf Menschen ohne Familienangehörige bauen können, grundsätzlich kleiner ist als das von Menschen, die Familienangehörige haben. Die Unter-stützung, die Familienangehörige bieten (können), hängt aber davon ab, wie weit weg sie von der älteren Person wohnen, wie eng ihre Beziehung ist und ob sie über genügend ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verfügen, um helfen zu können. Menschen ohne Familienangehörige sind in einem viel grösseren Ausmass auf professionelle Betreuung und Pflege angewiesen als Menschen, die unterstützende Familienangehörige haben. Ob sie allerdings den Zugang zu Betreuungs- und Pflegeangeboten finden, ist eine Frage ihrer wirtschaftlichen Ressourcen und ihrer Kenntnisse über das System der sozialen Sicherheit im Alter. Vulnerable ältere Menschen ohne Familienangehörige sind diesbezüglich in einer schlechten Ausgangslage. Dabei trifft es Frauen gleich doppelt: Sie haben ein höheres Armutsrisiko im Alter, weil sie wegen der geleisteten Sorgearbeit eine kleinere Rente bekommen. Und unsere quantitative Analyse hat ergeben, dass sie im Vergleich zu den Männern viel häufiger Gefahr laufen, im Alter selber keine Unterstützung zu bekommen, weil sie keine Familienangehörigen haben.

Alt werden ohne Familienangehörige ist vor allem ein weibliches Phänomen: Männer können im Fragilisierungsprozess häufig auf die Unterstützung ihrer Partnerin zählen. Frauen dagegen überleben ihren Partner häufig. Das hängt mit drei verschiedenen Faktoren zusammen: Erstens haben Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer, zweitens sind Frauen häufig mit älteren Männern liiert, der umgekehrte Fall ist eher die Ausnahme, und drittens finden ältere Männer häufiger wieder eine Partnerin als ältere Frauen einen Partner.* Wenn ältere Frauen keine Kinder haben, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie im hohen Alter keine Familienangehörigen haben: Rund 43 Prozent aller 70- bis 80-jährigen Frauen haben keinen Partner (oder keine Partnerin), und je älter die Frauen sind, desto häufiger stellt sich diese Lebenssituation ein.

In der Schweiz werden aber allgemein viele Menschen ohne Familienangehörige alt: Bereits heute haben mehr als 8 Prozent der Bevölkerung im Pensionsalter keine Familienangehörigen. In zwei verschiedenen Szenarien haben wir uns Gedanken über die künftige Entwicklung der Gruppe der älteren Menschen ohne Familienangehörige gemacht. 8 Prozent der 70- bis 80-Jährigen werden heute ohne Familienangehörige alt, und wenn man statistische Angaben über alle über 70-Jährigen (also auch die 80- bis 110-Jäh-rigen) hätte, sähe man, dass es noch viele mehr wären. Die Überlegungen in unseren Szenarien weisen darauf hin, dass in Zukunft deutlich mehr Menschen ohne Familienangehörige alt werden. Das ist vor al-lem darauf zurückzuführen, dass in Zukunft mehr Menschen in der Schweiz alt werden, die keine Kinder haben.

Die explorative Studie hat gezeigt, dass alt werden ohne Familienangehörige eine sozialpolitische Herausforderung darstellt. Die Zahl von Menschen, die im Alter ohne Unterstützung von Kindern und in keiner Partnerschaft leben werden, ist gross und wird in den nächsten Jahren deutlich ansteigen. Dies wirft zunächst Fragen an Institutionen auf, die für die Betreuung und Pflege älterer Menschen da sind. Ob Menschen, die im Alter ohne Familienangehörige sind, besondere und tragfähige Strategien entwickeln, sich zu organisieren, wissen wir noch nicht. Hier besteht Klärungsbedarf, bevor sich die Sozialplanung im Alter dieser Thematik annimmt. Das soziale Phänomen des Alterns ohne Familienangehörige provoziert aber auch sozialrechtliche Fragen. Hier zeigt sich in besonderer Deutlichkeit, wie wichtig ein Anrecht auf gute Betreuung wäre. Diese Forderung gehört auf die alterspolitische Agenda.

*Die hier beschriebenen Genderunterschiede beziehen sich explizit auf Unterschiede in heterosexuellen Partnerschaften. In gleich-geschlechtlichen Partnerschaften stellt sich die Frage nach genderspezifischen Unterschieden nicht.

Initianten der Studie

Age Stiftung
BeisheimStiftung
AGE-cmsBaselAltText
Ersnt Göhner Stiftung
Fondations Leeards
Migros-Kulturprozent
Paul Schiller Stiftung
Walder Stiftung

Durchführung der Studie

Fachhochschule Nordwestschweiz