Interview

Isabel Heger-Laube, MA, Fachhochschule Nordwestschweiz

Warum braucht es diese Studie?

Die Gruppe älterer Menschen, die im Alltag nicht auf die Sorgearbeit von Familienangehörigen zählen können, wird immer grösser, was mit dem demografischen Wandel zu tun hat. Dies stellt eine Herausforderung dar, denn in der Schweiz wird die unentgeltliche Betreuung im Alter durch die engsten Familienangehörigen immer noch implizit vorausgesetzt.

Ausserdem ist generell – auch international – noch sehr wenig über die Zielgruppe älterer Menschen ohne betreuende Familienangehörige bekannt. Vor allem fehlt es an Wissen über ihre subjektiven Perspektiven auf ihre Lebenssituation, ihre eigenen Vorstellungen eines guten Lebens im Alter und ihre individuellen Bedürfnisse. Unsere Studie verfolgt daher zwei Ziele: Einerseits möchten wir die Zielgruppe an sich besser verstehen lernen. Andererseits möchten wir Handlungsempfehlungen erarbeiten, wie die Lebensqualität älterer Menschen ohne betreuende Familienangehörige bewahrt oder verbessert werden kann.

Gibt es schon Ansätze in der Altersarbeit, welche diese Zielgruppe im Fokus haben?

Ja und nein. Einerseits gibt es schweizweit schon zahlreiche Angebote, Inativen und Pilotprojekte, die sich in verschiedener Hinsicht dafür einsetzen, ältere Menschen im Alltag zu unterstützen. Besonders vielversprechende Ansätze gehen zum Beispiel in Richtung Einführung von Case Management-Stellen, Aufbau von Caring Communities, Schaffung neuer Ansprechpersonen wie dem «Sozialen Concierge», Einrichtung lokaler Anlaufstellen oder auch in Richtung aufsuchende Soziale Arbeit für ältere Menschen im Quartier. Die meisten dieser Projekte haben unsere Zielgruppe bisher aber nur implizit im Blick. Um gerade auch ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige ansprechen und bei ihren jeweiligen Bedürfnissen abholen zu können, bräuchte es teilweise noch ein Umdenken.

Dr. Rebecca  Durollet, Fachhochschule Nordwestschweiz

Welches sind die Haupterkenntnisse, die aus der Studie gewonnen wurden?

Die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste unserer Zielgruppe sind so unterschiedlich wie die älteren Menschen selbst – es braucht daher Herangehensweisen, die dieser Heterogenität gerecht werden können.

Alt werden ohne betreuende Familienangehörige kann ausserdem nicht sofort mit besonderer Vulnerabilität gleichgesetzt werden, obwohl dies in der Schweizer Alterslandschaft oft so dargestellt wird. Alleinsein im Alter ist auch nicht gleichbedeutend mit Einsamkeit oder Unzufriedenheit. Dennoch kann das Altwerden ohne betreuende Familienangehörige bei fehlenden sozialen und finanziellen Ressourcen oder auch fehlenden sozialstaatlichen Rahmenbedingungen zum Problem werden. Wenn die wichtige Rolle der Familienangehörigen wegfällt, können sich Lücken ergeben, zum Beispiel im Hinblick auf den Zugang zu Informationen, die Auseinandersetzung mit schwierigen Zukunftsthemen oder auch die psychosoziale Betreuung im Alltag.

Wo gibt es weitere Forschungslücken?

Es gibt noch so gut wie keine Informationen über in der Schweiz lebende, ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige mit Migrationshintergrund oder kognitiven Schwierigkeiten. Gerade, um diese Personengruppen besser kennenzulernen, würden sich noch tiefer gehende Studien eignen, wo zum Beispiel über einen längeren Zeitraum teilnehmende Beobachtung im Alltag gemacht werden könnte. Auch wäre es interessant, zu erforschen, wie unsere Zielgruppe zu alternativen Wohnformen steht und wie vor allem die älteren Menschen selbst verschiedene Pilotprojekte evaluieren würden. Schliesslich wäre es spannend, zu untersuchen, ob und wie sich die Einstellungen und Erwartungen älterer Menschen ohne betreuende Familienangehörige im Wandel der Generationen verändern.

Dr. Yann Bochsler, Fachhochschule Nordwestschweiz

Wie wurde bei der Studie vorgegangen?

Wir haben ein qualitatives Vorgehen gewählt. Als analytischer Rahmen diente uns der Befähigungsansatz von Amartya Sen, der die individuellen Vorstellungen eines «guten Lebens» der Menschen als normativen Ausgangspunkt nimmt.

Unsere Forschung haben wir an fünf Orten in der Schweiz durchgeführt. Die Studie gliedert sich in drei Teilprojekte: In einem ersten Schritt haben wir durch Interviews die subjektiven Perspektiven älterer Menschen ohne betreuende Familienangehörige analysiert. In einem zweiten Schritt haben wir die lokalen Rahmenbedingungen für ihr Altwerden untersucht. Drittens haben wir die Ergebnisse der ersten beiden Teilprojekte miteinander verglichen. Zu diesem Zweck haben wir eine Matching-Analyse zwischen den Bedürfnissen der älteren Menschen ohne betreuende Familienangehörige und den Rahmenbedingungen durchgeführt und eine qualitative Typologie entwickelt. Darauf aufbauend haben wir schliesslich Handlungsempfehlungen für die Alterspolitik und die Altersarbeit formuliert.

Was kann eine Gemeinde nun konkret tun?

Die Studie hat gezeigt, dass es noch Angebotslücken gibt. Aktuell werden vor allem Bedürfnisse, die in Richtung psychosoziale Betreuung im Alltag gehen, oft nicht abgedeckt. Zudem deuten unsere Resultate darauf hin, dass es für einen Teil unserer Zielgruppe nicht ausreichend ist, Angebote lediglich «zur Verfügung zu stellen» (Holschuld). Die Angebote der kommunalen Altersarbeit sollten auch aktiv an die Zielgruppe herangetragen werden (Bringschuld). Für die Planung der Alterspolitik und die Umsetzung von Angeboten ist es zentral, ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige explizit als Zielgruppe anzuerkennen, ohne sie allerdings grundlegend als «vulnerabel» zu begreifen. Denn diese Kategorisierung könnte ältere Menschen davon abschrecken, Angebote in Anspruch zu nehmen. Der Einsatz von Altersdelegierten in den Gemeinden hat sich bewährt, um die verschiedenen Akteure der Altersarbeit und ihre Angebote zu koordinieren. Hierfür müssen die Gemeinden die nötigen Personalressourcen zur Verfügung stellen.

Prof. Dr. Carlo Knöpfel, Fachhochschule Nordwestschweiz

Was waren die Schwierigkeiten?

Wir wollten in der Studie die ganze Bandbreite an Lebenssituationen abbilden, in denen ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige leben. Das Ziel haben wir nicht ganz erreicht. Die vulnerabelste Bevölkerungsgruppe ist wohl zu wenig stark vertreten, aber auch die älteren Männer hätten ein etwas höheres Gewicht im Sample verdient gehabt.

Die Interviews wurden während der Pandemie geführt, was eine besondere Herausforderung darstellte, gerade weil wir ja mit der gefährdetsten Gruppe sprechen wollten. Umso eindrücklicher ist es, dass es gelungen ist, die gewünschte Zahl von Interviews an allen fünf Untersuchungsorten führen zu können.

Welche Empfehlungen gäbe es für die Alterspolitik?

Die gute Betreuung älterer Menschen muss als eigenständige Form der Unterstützung anerkannt und finanziert werden. Dazu braucht es ein Anrecht auf Betreuung auf nationaler Ebene, unabhängig von der Wohnform. Finanzielle Mittel für gute Betreuung älterer Menschen ist gut investiertes Geld. Gute Betreuung entfaltet eine präventive Wirkung. Sie fördert die Lebensqualität im Alter und trägt dazu bei, dass ältere Menschen einen Übertritt in ein Pflegeheim hinauszögern oder ganz vermeiden können. Die Betreuung älterer Menschen ist eine soziale Aufgabe. Wo es professionelle Unterstützung braucht, sind Personen aus den Sozialen Berufen einzusetzen.

Initianten der Studie

Age Stiftung
BeisheimStiftung
AGE-cmsBaselAltText
Ersnt Göhner Stiftung
Fondations Leeards
Migros-Kulturprozent
Paul Schiller Stiftung
Walder Stiftung

Durchführung der Studie

Fachhochschule Nordwestschweiz